Vom Radio zum Smartphone
ZUGRIFF
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entsteht ein neues Massenmedium, das erste, das tief in den privaten Bereich der Menschen vordringt, bis hinein in ihr Wohnzimmer. Es tönt und unterhält mit Nachrichten, Hörspielen und Musik. Es vereint die Menschen vor einem technischen Gerät. Und man muss dafür nicht vor die eigene Haustür treten: Das Radio.
Das Potential eines Gerätes, das in jedem Zuhause steht und die Menschen tief im privaten Bereich erreicht, sahen die Nationalsozialisten sehr früh. Sie versuchten erfolgreich die Verbreitung des Radios zu maximieren, indem sie ein günstiges Gerät produzieren ließen (den „Volksempfänger“). Bald gab es in 16 von 22 Millionen Haushalten im deutschen Reich ein Radio.1 Die Innovation des Radios nutzten die Nazis und brachten „den Führer“ direkt zu jeder Familie nach Hause.
„Die Nationalsozialisten selber wußten, daß der Rundfunk ihrer Sache Gestalt verlieh wie die Druckerpresse der Reformation.“2
Das Radio ist nicht nur ein Segen der Unterhaltung, das einem Musik und Nachrichten ins Haus spült. Ein Gerät das unterhält und die Zeit vertreibt, ablenkt und informiert. Denn man erhielt mit dem Gerät direkten Zugriff auf die Gemüter und Gedanken der dort lebenden Bürger. Zugang zum Intimsten der Menschen: ihrer Wahrnehmung. Man musste nicht einmal nach ihnen suchen, sie hatten sich freiwillig an die Empfänger gekoppelt. Dort, wo sie am verletzlichsten waren, im Privaten.
Die Unmengen an Radios in den Wohnungen und Häusern waren ein riesiges Netzwerk. Die Menschen hatten sich diese Parasiten ins Haus geholt und jetzt hatte, wer immer den Sender kontrollierte, Zugriff auf die Menschen in ihrer Privatsphäre. In jedem Zuhause war der Kanal offen, die Subjekte verfügbar. Die Wohnungen wurden geflutet. Informationen, Reden und Musik, Worte, Meinungen, Ansichten und Propaganda. Über das Radio ergab sich (und ergibt sich) Zugriff auf die Köpfe und den emotionalen Haushalt der ganzen Bevölkerung.
Daraus lässt sich folgendes ableiten: Ein Medium funktioniert immer in beide Richtungen. Auf der einen Seite ermöglicht es den Subjekten Zugang zu einem Raum (Informationen zu erhalten, sich zu Äußern und andere zu erreichen). Auf der anderen Seite wird der Zugriff auf die Subjekte selbst ermöglicht. Für die Netzwerke der heutigen Kommunikation, die auf Smartphones zu Hause sind, gilt dies nicht weniger. Sie bieten sogar in einem viel höherem Grade Zugriff auf die Subjekte.
FAKE NEWS ET AL
Durch die Massenmedien (dazu gehören auch soziale Medien wie X, Telegram, Bluesky, Youtube, usw.) ist es möglich geworden in großem Maße Menschen Falschinformationen zuzuspielen und dadurch auf ihre Emotionen zuzugreifen. Das funktioniert vermittels aller medialen Formen: Text, Bild, Musik. Zum Beispiel, indem man Menschen schockierende Nachrichten oder Videos und Bilder zukommen lässt (meist kontextuell gekoppelt), löst man Gefühle in ihnen aus. Und beeinflusst auf diese Weise ihre Wahrnehmung, Meinung und (politischen) Entscheidungen.
Das ist so trivial nicht, wie es zu erst erscheint. Denn beim Zugriff auf die Emotionen der Empfänger, sowohl durch falsche Informationen als auch durch Videos und Bilder, ist es als Empfänger viel schwieriger sich zu wehren als gegen Fakten oder neutrale Informationen. Letztere kann man rational behandeln, überprüfen und abwägen. Aber ist die Emotion erst einmal hervorgerufen, ausgelöst, ist sie in uns. Ein Bild oder Video kann nicht ungesehen werden. Eine an Emotionen gekoppelte Falschinformation greift erst einmal vermittels des Gefühls (Schock, Empörung, Angst, Wut,...). Sie nimmt Raum in der empfangenden Person ein. Ein Gefühl das geschürt ist, ist qua seiner Existenz wahr. Jenes abzubauen, einzuordnen ist Arbeit. Arbeit die oft nicht geleistet wird. Arbeit, die wir im Umgang mit Medien gesellschaftlich gar nicht thematisieren. Für die wir kein Konzept haben.
(In einer Gesellschaft, in der die Auseinandersetzung mit Emotionen an sich schon defizitär ist bzw. die dazu neigt bestimmte Emotionen zu verdrängen, können solche Zugriffe aufs Emotionale noch besser wirken. — Und da der patriarchale Kapitalismus eine Verdrängungsorgie darstellt, bieten kapitalistische Gesellschaften hierfür ein enormes Potential).
INTENSITÄTEN
Obwohl es auf der Ebene der Nachrichten so aussieht: es geht bei den (sozialen) Medien oft nicht um Inhalte. Selbst bei der Falschinformation. Sondern um den Zugriff auf Emotion und Wahrnehmung. Es geht darum Intensitäten zu beeinflussen. Wie wird etwas wahrgenommen? Wie sehr regt etwas auf? Wie stark affiziert es die Menschen? Wie lassen sich Themen über Gefühle intensivieren? Wie erhöht man den Zugriff auf Subjekte vermittels ihrer Emotionen? Wie macht man Menschen wütend? Wie bringt man sie dazu, sich gegen ihre Interessen zu mobilisieren?
In diesem Zusammenhang müssen die kurzen Texte, Bilder und Videos sozialer Medien und Netzwerke verstanden werden. Es geht nicht um konkrete Informationen, sondern um Effekte. Diese Dinge wirken auf der Ebene der Emotionen, der Affekte. Sie wirken nicht primär auf der intellektuellen Ebene mit rationaler Schärfe, oder auf faktischer Ebene der Information, sondern auf der körperlichen Ebene der Gefühle. Sie beeinflussen und sollen beeinflussen. Sie sollen emotional sein und Emotionen auslösen/ nähren.
Und dies so breit gestreut wie möglich. Es geht um Massen von Menschen. Darum, eine Menge von Menschen zu bewegen, zu affizieren und in eine Richtung zu bewegen, driften zu lassen oder Meinungen zu verschieben. Es geht um Reichweite, um Ausbreitung, um Weiterleiten, um Ansteckung. Es geht darum vom Bild zum Körper, vom Medium zur faktischen Motion von Menschen zu gelangen.
Gerade rechte und radikale Strömungen nutzen gezielt die Emotionen (z.B. Angst und Unsicherheit), um Menschen mit ihren Inhalten zu infizieren und Wut und Hass mit bestimmten Themen zu verknüpfen. Bilder ausgedachter Opfer, falsche statistische Zahlen oder Behauptungen, auch Musik (siehe TikTok), wühlen auf und oder zementieren bestehende Emotionen wie Wut, Ablehnung und Hass. Gezielt werden Argumente oder Themen, die nicht zusammenhängen, zusammengebracht, um emotional zu aktivieren. All diese Element dienen zur Verstärkung jener Intensitäten, die sich in den Emotionen der Menschen ausdrücken. Und in diesem Zusammenhang geht es darum, Posts, Texte, Videos und „Bilder als Biowaffen [zu verstehen], die in die informationelle Ökologie entlassen werden mit dem Ziel, zu infizieren.“3 Und der letztendliche Zweck ist die Körper zu Taten zu bewegen.
Ein Beispiel: Am 29. Juli 2024 kam es im britischen Southport durch einen 17 jährigen Täter zu einem Messerangriff auf Kinder. Mehrere rechtsextreme Accounts behaupteten daraufhin fälschlich, es handele sich beim Täter um einen muslimischen Asylbewerber. Fotos eines völlig Unbeteiligten wurden über social Media verbreitet. Diese Gerüchte wurden von bekannten rechten Influencern weiterverbreitet – oft mit Aufrufen zu „Rache“ und zur „Verteidigung britischer Kinder gegen Invasoren“. Dies führte unmittelbar danach zu rassistischen Angriffen auf Moscheen, Polizeikräfte und Migrant*innen. In den folgenden Tagen kam es auch in anderen Städten – darunter Liverpool, Manchester, Sunderland und Belfast – zu gewaltsamen Demonstrationen, Ausschreitungen, Angriffen und Drohungen gegenüber muslimischen Einrichtungen. Ein später veröffentlichter Bericht des britischen Innenministeriums zeigte, dass die Gewaltausbrüche fast ausschließlich durch Falschinformationen in sozialen Medien ausgelöst wurden. Mehrere gewaltbereite Gruppen hatten sich über Telegram und Facebook-Gruppen organisiert, die innerhalb weniger Stunden Zehntausende Follower erreichten.
https://www.youtube.com/watch?v=Z695rfaCoW8 (Abre numa nova janela)Der Fall „Southport“ ist exemplarisch für die Funktion von Posts, Bildern, Videos, die auf der emotionalen Ebene operieren und, über die Körper, in der Realität sich auswirken. Die Wirkung über die Emotion ist der Übersprungspunkt vom Digitalen ins Reale. Und deshalb geht es um realen Hass, reale Gewalt und reale Konsequenzen.
Die Liste solcher Beispiele ist lang: der Sturm aufs Kapitol 20214, die rechte Verschärfung des Migrationsdiskurses zur Bundestagswahl 20255 in Deutschland, die systematische Radikalisierung von Jugendlichen durch Rechtsradikale6 oder die durch rechtsradikale Gruppen losgetretene Kampagne gegen die Kandidatin für das Verfassungsgericht Frauke Brosius-Gersdorf, von der sich die CDU manipulieren ließ (oder diese willkommen entgegen nahm) und die zur Diskreditierung der Regierung wie auch der Demokratie und der Normalisierung rechter Stimmungsmache beitrug7.
Hier wie dort fordert dies menschliches Leben. Posts sind nicht einfach Posts und Bilder nicht einfach Bilder. All dies hat immer reale Konsequenzen (auf und für Menschen).
VOM RADIO ZUM SMARTPHONE
Was mit dem Radio ins Zuhause Einzug hielt, vollendet sich mit dem Smartphone. Jenes ist immer am Körper, immer verfügbar und somit der Zugang zu den Subjekten stets gewährleistet. Durch die innigere Bindung erhöht sich auch der Zugriff auf die Subjekte und ihre Emotionen, gerade in einer Gesellschaft in der die Subjekte sich, ihr Selbstbild und ihre Position in der Gesellschaft über diese Medien zu definieren beginnen. Dadurch entsteht eine Rückkopplung von Emotion und Selbstbild an das Medium, das die Subjekte und ihre Gefühle beeinflusst, die sich potenziert.
Verschärft wird dies dadurch, dass die technische Entwicklung immer schneller von statten geht und gesellschaftlicher Umgang mit den neuen Möglichkeiten den technischen stark hinterher hinkt (Stichwort: Medienkompetenz — die auch bei Erwachsenen und selbst bei professionellen Nutzern wie Journalist*innen mangelhaft ist). Es ist als würde man in einem Flugzeug sitzen und während des Fluges herauszufinden versuchen, wie es funktioniert, wie man es repariert und wie man es steuern kann. Selbst die Regulierung solcher Medien, in Aspekten in denen sie offensichtlich direkte Angriffe auf die Demokratie darstellen, scheint nicht zu gelingen.
Im Gegensatz zum Radio aber sind die sozialen Netzwerke noch auf andere Weise in einem höheren Grad problematisch. Denn sie gehören privaten Eigentümern, die selbst die intransparenten Regeln setzen, nach denen diese funktionieren. Da jene Eigentümer oft libertäre Rechte oder sogar menschenverachtende Rassisten (wie Elon Musk) sind, die ihre ganz eigenen Agenden verfolgen, nutzen sie diese Netzwerke, um ihren Einfluss auf die Gesellschaft auszuweiten. Wenn der (virtuell) reichste Mensch der Welt eine der größten Kommunikationsplattformen besitzt und nach seinem Gusto organisiert, konzentriert sich so viel Macht auf einer Person, dass bereits diese Akkumulation alleine demokratiezersetzend ist. Ganz abgesehen von den Auswirkungen einer solch tatsächlich ausgeübten Macht.
In der Beurteilung von (sozialen) Medien aber stehen wir selbst noch immer zu oft auf dem Standpunkt, dass es dort um Information und Rationalität ginge. Also um einen vernünftigen Diskurs und um Argumente. Und dass Diskutieren, Verhandeln, Fakten die probaten und rationalen Mittel seien, sich gegen diese Angriffe zur Wehr zu setzen. Dabei sollten wir viel stärker die irrationalen Aspekte und jene, die Einzelperson übersteigenden, Effekte dessen in Betracht ziehen.
Denn sowohl die Gleichsetzung von Fakt und Lüge, Wahrheit und Emotion, Information und Manipulation basiert auf den beschriebenen Mechanismen des Zugriffs auf die Subjekte. Es geht in den beschriebenen Diskursen nicht um „Wahr“ oder „Falsch“, sondern um Machttechniken. Es geht um Zugriffe auf Subjekte, auf ihre Emotionen und vermittels dieser auf ihre Handlungen und Körper.
Wer dem entgegen auf der inhaltlichen Ebene verbleibt und versucht dort rational zu argumentieren, wird in dieser neuen Konstellation nichts erreichen. Die Auseinandersetzungen die geschehen, spielen sich nicht auf der inhaltlichen Ebene ab, sondern auf der strukturellen. Anders: es geht nicht um Argumente, es geht um Macht.
Und in diesem Zusammenhang muss der Journalismus endlich aufwachen. Denn auf Grund der Ebenenverschiebung ist auch die Wiederholung einer Falschinformation oder ihrer Bilder zum Zwecke „neutraler“ Berichterstattung ein Fehler. Die Reproduktion der Falschinformation oder ihrer Bilder reproduziert auch ihren Effekt. Reproduziert den Zugriff auf die Subjekte. Es reproduziert die affektive Ansteckung, das Schüren der Emotionen, also das ursprüngliche Ziel der Manipulatoren. Und trägt damit zur Verbreitung und Produktion ihres Effektes bei. Journalismus, der diese Zusammenhänge ignoriert und nicht durchschaut, macht sich zum Werkzeug dieser Machtausübungen. Indem man immer noch glaubt, es ginge um Inhalte und nicht um Effekte, unterstützt man jene Techniken und Kräfte, die einen zersetzen und letztlich zerstören wollen. Und reproduziert durch die eigene Reichweite für jene Demagogie den Zugriff auf die Subjekte.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/100-jahre-radio-deutschland-100.html (Abre numa nova janela) und https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Volksz%C3%A4hlungen_in_Deutschland (Abre numa nova janela) ↩
Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt a.M. 1978, S. 187 ↩
Terranove, Tiziana, „Network Culture“, Pluto Press, London 2004, S.142 ↩
Aus einer Studie zum Sturm aufs Kapitol: „Wir stellen fest, dass Trumps Tweets das Ausmaß der Gewalt und den Waffeneinsatz der Randalierer sowie deren Dauer vorhersagen. Trumps Tweets sagen auch Veränderungen in der Lautstärke und den Stimmungen der #StopTheSteal-Tweets voraus, was wiederum zusätzliche Schwankungen im Ausmaß der Gewalt und des Waffeneinsatzes im Verlauf der Randalierer erklärt. Unsere Ergebnisse offenbaren neue Verhaltensmuster, die das Online-Verhalten einer Autoritätsperson während eines Protests und den Wechsel von friedlichem Protest zu Gewalt miteinander in Zusammenhang bringen.“ Fünf Menschen starben, hunderte wurden verletzt, Schäden in Millionenhöhe wurden verursacht. https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsif.2024.0314 (Abre numa nova janela) und https://en.wikipedia.org/wiki/January_6_United_States_Capitol_attack (Abre numa nova janela) ↩
Die Opfer dieser Verschärfung sind schwer zu beziffern, sind aber sowohl faktisch als auch moralisch gravierend. Sogar Kinder wurden an der deutschen Grenze zurück gewiesen, verbündete afghanische Kräfte im Ausland ihrem Schicksal überlassen, genauso wie Familien hier schon lebender Migranten in Kriegsgebieten, die Versorgung Geflüchteter in Deutschland hat sich verschlechtert, die Attraktivität der BRD für ausländische Fachkräfte im In- und Ausland ist drastisch gesunken, rechter Hass und Ablehnung von Migranten wurde dadurch legitimer, die rechtsradikalen Straftaten sind extrem gestiegen durch die breite gesellschaftliche gewachsene Akzeptanz, Deutschlands Konservative sind schwächer gegenüber der rechtsextremistischen AfD geworden, Deutschland ist vulnerabler für Manipulation und Migration als Waffen seitens Russlands geworden, usw. ↩
“Verfassungsschutz-Bericht: Radikalisierung junger Menschen alarmierend” https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/verfassungsschutzbericht-radikalisierung-junger-menschen-alarmierend,verfassungsschutz-170.html (Abre numa nova janela) ↩
“Es handele sich „um einen medialen und politischen Erfolg für die Neue Rechte“, sagt die Deutschlandfunk-Journalistin Christiane Florin, die seit Längerem deren Strategie beobachtet. Diese bestehe darin, „demokratische Institutionen zu sabotieren, einen permanenten Ausnahmezustand herbeizureden und den Eindruck zu erzeugen, nur eine rechte Partei könne das Volk aus diesem Chaos retten“.” https://www.deutschlandfunk.de/frauke-brosius-gersdorf-rechte-kampagne-analyse-100.html (Abre numa nova janela)