WER SIND DIE ALLE?!?
Größte Überraschung bei den diesjährigen Buchpreis-Longlist-Nominierten: Nahezu alle Menschen, die ich kenne (so alle vier bis fünf) waren überrascht und lagen arg daneben, wer so nominiert sein könnte. Es ging mir nicht anders. Mit zwei, drei Gedanken lag ich, beziehungsweise lagen wir richtig. So wie beispielsweise mit Kaleb Erdmanns Die Ausweichschule. Ein Roman, den ihr sicherlich daher kennt, dass mittlerweile beinahe selbst jeder Bookstagram-Bubble-Beginner ihn mal in die Kamera gehalten hat.

Außerdem war für uns klar, dass Michael Köhlmeier mit seinem hart sexistischen und – #sorrynotsorry – derb belanglosen Roman Die Verdorbenen nominiert sein würde. Gäbe es einen Preis für das schönste Cover der letzten Monate, wäre er in der engeren Auswahl. Aber der Inhalt ist... nun... derart verschwurbelt auf kürzester Strecke, dass es nicht nur beinahe wehtut. Klar finden sich schöne Sätze, doch ist der Kontext eher weniger fein. Vielleicht hat ja Jurymitglied Jürgen Kaube auf die Nominierung bestanden? Eigentlich ein von uns geschätzter Alter Weißer Mann. Da er aber die sexistischen und ehrenrührigen Angriffe gegen Frauke Brosius-Gersdorf nicht nur verteidigt und möglicherweise als Mit-Herausgeber der mittlerweile teils BILD-haften Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit orchestriert hatte, sondern sich zusätzlich noch dazu verstieg, auf ihren „Rückzugs-Brief“ auf eine äußerst stilbefreite Art zu reagieren und einen nicht minder garstigen Kollegen der gleichen Zeitung in Schutz zu nehmen nach dem Motto „Das-Wird-MaNN-Ja-Noch-In-Den-Raum-Stellen-Und-Im-Gegensatz-Zu-Einer-Frau-Die-Ein-Wenig-Ego-Hat-Noch-Verbreiten-Dürfen“, ist er für uns irgendwie „durch“. Für einen Mann, der meint Stil und Würde, Anstand und Ethik so gut zu kennen, zu verteidigen und zu verkörpern, ist das schon bitter-ironisch. Warum mischte er sich da nochmals ein? War der öffentlichkeitswirksame und meinungsstarke Kollege so verletzt davon, dass eine Frau, die er plump und übergriffig niedergeschrieben hat, das anspricht? Halb anonymisiert? Ist die F.A.Z. mittlerweile so klein geworden, dass sie Kritik nicht aushält? Erträgt sie nicht, dass direkt angegriffene Menschen auf eben diese Angriffe reagieren? Müssen sie dann noch mit teils haltlosen Vorwürfen um sich werfen, allein um zu zeigen, dass sie es können? Das ist so winzig klein und abgeschmackt. Dabei mag die vermeintliche Grande-“Dame“ des Kulturjournalismus J. K. es doch üppig und komplex, siehe Hegels Welt. „Lesen sie auch die anderen Bücher“, sagte er bei der Verleihung des Sachbuch (Öffnet in neuem Fenster)preises im Berliner Humboldt Forum vor einigen Jahren. Es war eine gute Rede. Nun sagen wir: Denken Sie auch an die anderen Menschen. Denken Sie an Verletzungen. Verblöden Sie sich nicht. Wenn aus saturiert sinister wird, ist eine Grenze überschritten. Frank Schirrmacher dürfte sich im Grabe umdrehen, ob der schieren Masse von Unmöglichkeiten, journalistischen Fehlverhaltens und Ego-Shows. (Vermutlich steht aus ähnlichen Gründen Ursula Krechels Sehr geehrte Frau Ministerin nicht auf der Liste – maybe too close to home.) Der Vollständigkeit halber hier noch die Namen der anderen Jury-Personen (Öffnet in neuem Fenster): Laura de Weck (Jury-Vorsitzende und einigen bekannt als Bachmann-Preis-Diskutantin), Maria Carolina Foi (Universität Triest), Friedhelm Marx (Universität Bamberg), Kathrin Matern (Frau Rilke Buchladen, Neustrelitz), Lara Sielmann (Deutschlandfunk Kultur), Shirin Sojitrawalla (freie Kritikerin).

So, wo waren wir? Ach ja, bei den Buchpreis-Nominierten. Dass Jacinta Nandi mit ihrem herrlichen Roman Single Mom Supper Club nominiert würde, hatten wir uns gewünscht – jedoch nicht vermutet. Freut uns sehr! Bei Im Herzen der Katze von Jina Khayyer wiederum waren wir uns recht sicher. Ähnlich wie Erdmanns Ausweichschule eine Art Buch der Stunde. Ansonsten lagen wir wie gesagt mit den meisten Tipps daneben. Etwa Hannah Lühmanns Heimat, Yulia Marfutovas Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel, Leon Englers Botanik des Wahnsinns (Öffnet in neuem Fenster), Kristine Bilkaus Halbinsel und Marlene Streeruwitz' Auflösungen. Womit wir wiederum richtig lagen, war die Annahme, dass die Hanser-Gruppe auch 2025 solide vertreten sein dürfte. Und definitiv mindestens ein Buch aus den Verlagen Kiepenheuer & Witsch, S. Fischer, Luchterhand und C.H. Beck vertreten ist. Diverse kleine und unabhängige Verlage sind schön zu sehen. Nun bedeutet Indie nicht gleich Qualität. Doch hat unter anderem Voland & Quist immer wieder mit glänzenden Perlen überrascht (siehe Carl-Christian Elzes Freudenberg).
Hier also die Longlist-Nominierten:
Kathrin Bach: Lebensversicherung (Verlag Voland & Quist, Februar 2025)
Marko Dinić: Buch der Gesichter (Paul Zsolnay Verlag, August 2025)
Nava Ebrahimi: Und Federn überall (Luchterhand Literaturverlag,
September 2025)
Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen (Carl Hanser Verlag, August 2025)
Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule (park x ullstein, Juli 2025)
Annett Gröschner: Schwebende Lasten (Verlag C.H.Beck, April 2025)
Dmitrij Kapitelman: Russische Spezialitäten (Hanser Berlin, Februar 2025)
Jina Khayyer: Im Herzen der Katze (Suhrkamp Verlag, Juli 2025)
Jehona Kicaj: ë (Wallstein Verlag, Juli 2025)
Michael Köhlmeier: Die Verdorbenen (Carl Hanser Verlag, Januar 2025)
Jonas Lüscher: Verzauberte Vorbestimmung (Carl Hanser Verlag, Januar
2025)
Thomas Melle: Haus zur Sonne (Verlag Kiepenheuer & Witsch, August
2025)
Jacinta Nandi: Single Mom Supper Club (Rowohlt Hundert Augen, Juni
2025)
Gesa Olkusz: Die Sprache meines Bruders (Residenz Verlag, März 2025)
Lena Schätte: Das Schwarz an den Händen meines Vaters (S.ִ Fischer
Verlag, März 2025)
Lina Schwenk: Blinde Geister (Verlag C.H.Beck, August 2025)
Fiona Sironic: Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen
Sachen in die Luft (Ecco Verlag, März 2025)
Peter Wawerzinek: Rom sehen und nicht sterben (Penguin Verlag,
September 2025)
Christine Wunnicke: Wachs (Berenberg Verlag, März 2025)
Feridun Zaimoglu: Sohn ohne Vater (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Februar
2025)
Wie gesagt hatten wir einige Titel gar nicht auf dem Schirm (was wohl vielen so ging, nicht zuletzt manch Deutschlandfunk-Kultur-Redakteur*in und auch daran liegen mag, dass das eine oder andere Buch erst in den kommenden Wochen erscheint). Umso feiner ist es, auf Titel wie Die Sprache meines Bruders von Gesa Olkusz oder Jehona Kicajs ë aufmerksam geworden zu sein. Oder auch Lena Schättes Das Schwarz an den Händen meines Vaters, das uns im Fischer-Frühjahrsprogramm durchgerutscht ist. Übrigens ist's eine schön ausgewogene Sache, dass mal ein paar mehr Bücher aus den Winter-/Frühjahrsprogrammen nominiert sind. Die geraten sonst ja gern nach dem Preis der Leipziger Buchmesse in Vergessenheit. In diesem Jahr sehen wir eine 50/50-Gewichtung, was ein angenehmer Zufall ist.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/0d646633-b196-4b52-97ac-3662bc053afe (Öffnet in neuem Fenster)Darüber hinaus gibt es so viel nicht zu sagen, da wir, wie erwähnt, einige Titel schlicht noch nicht gelesen haben und uns daher einer Bewertung enthalten. Was auffällt, ist, dass es in diesem Jahr sehr viel um Anpassungsgeschichten, Migration in verschiedenen Graden und Selbstfindung zu gehen scheint. Liegt aber sicherlich auch daran, dass derlei Bücher derzeit boomen. Ebenso fällt uns auf – dies allerdings buchpreis-unabhängig –, dass wieder (semi-)Autofiktionales am Start ist. Auf der einen Seite ist es natürlich schön und verständlich, dass Menschen aus ihren eigenen Erfahrungen schöpfen. Aber Fantasie ist auch ein hohes Gut. Wenn wir demnächst nur noch „literarische“ Tagebücher in den Regalen sehen, wird's auch dröge. Und nur weil du in der Vorstadt aufgewachsen bist und Mutti dir mal gesagt hat, dass du ein wenig dümmer bist, als sie sich das gewünscht hätte, hattest du noch nicht automatisch eine schwere Kindheit. Queerness scheint ebenfalls nicht so das Thema. Dazu gehört aber auch, zu erkennen, dass es zuletzt wenig deutschsprachige Titel gab, die sich damit auseinandergesetzt haben (dafür findet sich viel Buntes unter den Hotlist-Nominierten (Öffnet in neuem Fenster)). Der große deutsche Israel-Roman fehlt. Was daran liegen mag, dass es ihn nicht gibt. Oder falls doch kein Verlag den anfassen mag, weil ja irgendjemand sagen könnte, dass da der vermeintliche Apartheids-Staat unterstützt würde. Doch würden wir uns so ein Buch wünschen. So ein wenig ist das „Abtasten“ von jedem historisch falschen Gefühl letztlich feige Genügsamkeit. Und sollten Bücher – und somit auch Verlage – nicht auch mutig sein? Jeder Schmock, der sich für die BDS-Sektierer engagiert oder die „Refusing Complicity in Israel’s Literary Institutions“-Kampagne unterzeichnet (Öffnet in neuem Fenster), bekommt einen Buchvertrag und wird für das unermüdliche Engagement gelobt. Wer hingegen meint, ein „from the river to the sea“ sei dezent einseitig und irgendwie ist's uncool wegen des Tragens einer Kippa beleidigt zu werden, ist Komplize von Unterdrückung und Aggression. Leser*innen sagen und posten „Nie wieder“ und „Kein Raum für Antisemitismus (Öffnet in neuem Fenster)“, lesen dann aber Sally Rooney, weil sie ja so gut schreibe (was nicht stimmt) oder finden schon, dass Schüler*innen des Jüdischen Gymnasiums sich durchaus für einen Benjamin Netanjahu und die „ewige Schuldkeule“ rechtfertigen sollten. Um mal mit den österreichischen Vorstadtweibern zu sprechen: „Geh scheißen.“ (Dazu in Kürze noch mehr.)
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/bdcb35e7-0d4f-43f3-b06c-3305731efceb (Öffnet in neuem Fenster)Nun werden wir uns gespannt auf das eine oder andere Buch einlassen. Wie etwa Rom sehen und nicht sterben, Die Holländerinnen, Schwebende Lasten oder Wachs. Wir halten euch auf dem Laufenden. (Shortlist kommt am 16. September und die Preisverleihung findet am 13. Oktober in Frankfurt am Main statt – das ist die Stadt mit den vielen Junkies, Bonzen und Handlungsort der Zweiflers, einer der besten Serien ever. Außerdem der Sitz des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels sowie Ausrichtungsort einer kleinen Indie-Messe namens Frankfurter Buchmesse.) Übrigens gibt es noch einen anderen Buchpreis, mit weit weniger Tamtam, dafür einigem gehaltvollen Wumms. Nennt sich das Wissensbuch des Jahres, organisiert vom Magazin Bild der Wissenschaft (für das wir hier und da Sachbücher rezensieren) und jedes Jahr ist es eine überraschend prächtige Liste (Öffnet in neuem Fenster).
Auf bald und – lest auch die anderen nicht nominierten Bücher (und geht ins Kino, laufen gerade viele gute Filme (Öffnet in neuem Fenster)).
QR
PS: Würde mensch sich ggf. doch mal den Werten der einen oder anderen Graphic Novel hingeben, wäre das schick. Weniger eingerostet, offener und eventuell würde der Buchpreis dann nicht nahezu ständig das Klischee erfüllen, doch ein wenig out of touch zu sein.
PPS: Lest mal Die intellektuelle Selbstzerstörung.
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