UND IHR ANTISEMITISMUS SO?!?
SACHBUCH-KRITIK
Puh, ist echt schon wieder die Hälfte des Jahres rum?! Muss wohl so sein. Denn drei bis vier Konstanten zeichnen die Jahresmitte seit geraumer Zeit aus. Erstens: Es war Pride Month und ist Pride Season! An vielen Orten der Welt finden Pride Parades und CSD-Umzüge statt (Abre numa nova janela). Yay! Zweitens: Wir hatten bereits die ersten Hitzerekorde des Jahres. (Nicht so spitze, aber es gibt Hilfsmittel (Abre numa nova janela).) Drittens: Die Recherchestelle Antisemitismus (RIAS) stellte ihren Jahresbericht dokumentierter antisemitischer Vorfälle (Abre numa nova janela) vor.

Dieser fiel in diesem Jahr dadurch auf, dass er einen Steigerungswert verzeichnen konnte, von dem nicht nur die Deutsche Wirtschaft derzeit träumt. „2024 dokumentierten die RIAS-Meldestellen insgesamt 8627 antisemitische Vorfälle. Das entspricht einem Anstieg um fast 77 % gegenüber 2023 mit 4886 Vorfällen. Rechnerisch ereigneten sich 2024 knapp 24 antisemitische Vorfälle pro Tag gegenüber 13 pro Tag 2023“, lesen wir da in der Zusammenfassung des Berichts.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/bdcb35e7-0d4f-43f3-b06c-3305731efceb (Abre numa nova janela)Auf Berlin entfallen dabei allein 2521 Fälle. Dabei sprach RIAS schon 2023 bei nun vergleichsweise „nur“ 1270 Fällen von einem „neuen Höchststand seit Beginn der Dokumentation“. Dass der ebenfalls im Juni vorgestellte Verfassungsschutzbericht 2024 „erneut ein phänomenübergreifendes Sonderkapitel zu den Auswirkungen des Nahostkonflikts und zum Antisemitismus“ enthält, passt spätestens seit dem 7. Oktober 2023 leider dazu. Darin heißt es: „Unterschiedliche extremistische Akteure nutzten den Konflikt weiterhin, um zu Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden oder den Staat Israel aufzurufen oder sein Existenzrecht zu verneinen. Antisemitismus und Israelfeindlichkeit sind verbindende Elemente zwischen diesen Akteuren und haben ein starkes Emotionalisierungs- und Mobilisierungspotenzial.“
So vor nicht allzu langer Zeit unter anderem das Plakat nahe der Humboldt Universität zu Berlin mit „strafrechtlich relevantem Inhalt“ mit Bezug zu Israel (Abre numa nova janela), das den kurz zuvor gemeinsam mit seiner Partnerin Sarah Milgram in Washington, D.C. ermordeten Yaron Lischinsky zeigte. Dies kann dann im Verfassungsschutzbericht 2025 festgehalten werden. Huzzah.
Woher kommt das alles? Frage für eine*n Freund*in. Der*die viele sein können. „Woran erkennt man Antisemitismus? Und wo kommt er her?“, fragt ebenfalls Markus Roth, der am Fritz Bauer Institut Geschichte und Wirkung des Holocaust in Frankfurt am Main forscht, in seinem Band Die 101 wichtigsten Fragen: Antisemitismus. Dieser ist im Münchener C.H. Beck Verlag bereits im Sommer 2023 erschienen, das macht aber gar nichts. Ist Antisemitismus doch ein wunderbar zeitloses Thema, das immer und immer wieder Konjunktur und gerade sogar Hochkonjunktur hat. Wie wir nicht zuletzt dem smarten Büchlein entnehmen können.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/9f1aac09-b9bb-439f-a8c0-9d3e2027b2d4 (Abre numa nova janela)Nach einer kurzen Vorbemerkung, in der deutlich wird, wie tricky diese Weltanschauung, die laut der US-Journalistin Bari Weiss „ihren Verfolgern immer ein paar Schritte voraus“ ist, ist, geht es los mit „Definitionen, Begriffe und Grundfragen“ wie „Warum werden ausgerechnet Juden so gehasst?“, wie viel Antisemitismus mit Religion zu tun hat und was die Jersualemer Erklärung ist. Im Folgenden kommen wir zum „Antisemitismus heute“: „Wie antisemitisch ist die AfD?“, „Macht ein gelber Stern jemanden schon zum Antisemiten“, oder, brandaktuell und vermeintlich umstritten: „Ein kritisches Wort über Israel und schon ist man Antisemit“ sowie „Sind Boykottaufrufe gegen Israel per se antisemitisch?“
Darauf folgen „Stoffe und Stereotype“, also diverse Legenden, Lügen und Verschwörungsmythen, wie solche zu Geld, Ritualmorden, Schächten, Rache oder gar George Soros und Michel Friedman. Ein reichhaltiger Abschnitt. Ein kurzer Abschnitt zu historischen Fragen bietet einen kleinen Exkurs. Wobei Markus Roth in manch einer Frage auf eine andere verweist und vice versa, es muss ohnehin nichts in Reihenfolge gelesen werden und der Historie (des Judenhasses) begegnen geneigte Leser*innen sowieso reichlich auf den 150 Seiten.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/60685671-4f9a-4ebb-9ef2-ad47568c558f (Abre numa nova janela)„Von der Emanzipation zum Holocaust“ ist mehr oder minder neuere Geschichte. Es schauen die Kollegen Charles Darwin und Richard Wagner vorbei, die Fantasiegeschichte namens „Protokolle der Weisen von Zion“ taucht auf und es wird gefragt, ob sich die Juden denn überhaupt mal gewehrt hätten, bevor wir zu den Novemberpogromen 1938 kommen und sich die Frage stellt, ob diese „nur“ ein Rückfall respektive eine Kopie des Mittelalters gewesen seien. Wie überhaupt der Nationalsozialismus.
Abschließend geht es in „Bundesrepublik und DDR“ u. a. um die Gruppe 47 (pfui, bah), Rainer Werner Fassbinder, Martin Walser und, natürlich, Jürgen Möllemann. Zudem ist diese Zeit mit der Frage verbunden: „Verschwand mit dem NS-Regime der mörderische Judenhass in Deutschland?“ Nicht nur zu dieser gibt es mittlerweile ganze Studien und Bücher. Last but not least stellen sich Fragen zu „Abwehr und Prävention heute“, die eine Art FAQ bieten und durchaus fortlaufend aktualisiert werden könnten.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/85eb6dca-eb26-4aba-b3c0-35f871f4e12d (Abre numa nova janela)Fein an dem gut leserlichen Band ist, dass Markus Roth beschreibt und berichtet. Er beurteilt so gut wie nie. Zwar erlaubt er es sich, uns hier und da seine Interpretation erfahren zu lassen, doch zwingt er uns seine Sichtweise nicht auf. Er bedient sich zahlreicher Studien, Erkenntnisse aus der Forschung und historischer Quellen sowie schreibender Kolleg*innen. Die Auswahl der weiterführenden und genutzten Literatur nehmen wir dankbar an. So steckt im Buch gar eine kleine Kulturgeschichte.
Gleichwohl macht Die 101 wichtigsten Fragen: Antisemitismus deutlich, dass es eben oftmals keine einfachen Ja/Nein-Antworten gibt und dass manch eine unterkomplexe Fragestellung, wie wir sie zuletzt wieder vermehrt vernehmen, letztlich nur dazu dient, den Gefragten eine Falle zu stellen. Eine Meinung, ein Vorurteil als Frage zu verpacken, bleibt eben ein Bitchmove. Roth würde das so natürlich nie formulieren. Zumal er, wie erwähnt, im Grunde nicht bewertet und ebenso wenig vermittelt, zu glauben, er habe Weisheit und Wahrheit gefrühstückt.
https://steady.page/de/thelittlequeerreview/posts/98ecf004-a901-48a0-a78c-d953579fa7b0 (Abre numa nova janela)Das Buch sei allen empfohlen, die womöglich einmal in kompakter, gut verständlicher Form etwas über jüdische (und israelische) Geschichte und die Geschichte der Vorurteile und des Hasses erfahren wollen. Und natürlich ebenso all jenen, die Fragen haben und sich eventuell nicht trauen, sie zu stellen oder nicht recht wissen, an wen sie zu richten wären. Klar für alle, die sich gern bewusster machen möchten, wo Grenzen sind und die ihre Sensibilität erhöhen möchten. Allen, die derzeit gern laut auftreten, sei er ebenfalls ans Herz gelegt. Da sie „die Wahrheit“ ja aber kennen und es außer dieser keine andere geben kann, sei der erschwingliche Band vor allem offenen Köpfen und Herzen nahegelegt.
AS
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Eine Leseprobe findet ihr hier (Abre numa nova janela).
Markus Roth: Die 101 wichtigsten Fragen: Antisemitismus (Abre numa nova janela); August 2023; 155 Seiten; Softcover; ISBN: 978-3-406-80733-6; C.H. Beck Paperback; 14,00 €